Julia Mateus

Autorin

TITANIC 09/21TITANIC 09/21

30 Jahre ICE

TITANIC 09/21

Dieser Text verkehrt heute abweichend ohne Abschnitt 7.

InterCity Experimental

Der erste InterCity-Express-Zug sollte eigentlich schon 1986 losrollen. Da aber das vorausfahrende Modell InterCity Experimental noch die Gleise blockierte, verzögerte sich seine Abfahrt. Die Sitzplätze in den von Verner Panton im Jahr 1977 designten Abteilen des Vorgängers waren begehrt, doch die Schwachstellen des Zuges zeigten sich schon bald: Im Winter 1979/80 froren sämtliche Lavalampen ein. Auch Toilettenwände aus Glasbausteinen, Asbesttischplatten im Bordrestaurant, Schlafwagen mit Wasserbetten sowie die Bordchirurgie-Abteile, die zeitaufwendige Notarzteinsätze am Gleis reduzieren sollten, erwiesen sich als wenig praxistauglich.

Ausstattung

Viele Ausstattungsmerkmale heutiger ICEs waren schon in den ersten Modellen vorhanden und wurden sukzessive erweitert und modernisiert. So konnte bereits 1991 pro Zug ein Klapprad befördert werden. Analoge Reservierungsanzeigen waren zwei Jahre nach dem ersten ICE-Start verfügbar. Stark verändert hat sich im Laufe der Jahre insbesondere das Angebot an Telekommunikationsmöglichkeiten. In früheren ICEs gab es noch bordeigene Telefonzellen, für die die Bahncard zugleich als Telefonkarte genutzt werden konnte (3,99 DM/Min.). Sie befanden sich in der Ersten Klasse direkt vor dem Außengastronomiebereich am Ende des Zuges.

Mini-Büros auf Schienen

Nicht wenige der ersten ICE-Zusatzfeatures dienten dazu, den Zug für Geschäftsreisende attraktiver zu machen. So gab es dort die ersten Tiny Büros mit Schreibmaschinen, Faxgeräten, Briefkästen und Zigarettenautomaten. Zusätzlich sollten ein Friseurwaggon, eine Wäscherei neben dem 1.-Klasse-Wagen (und ausklappbare Bügeltische in der 2. Klasse) sowie ein Fitness-Abteil mit Hantelbank und Ergometer sicherstellen, dass Businessreisende die Zeit an Bord so effektiv wie möglich nutzen können. Auch diese Innovationen führten allerdings bei einigen Fahrgästen zu Frust. Faxe konnten ausschließlich in andere ICEs versandt werden, bei Faxnummern außerhalb erschien die Fehlermeldung: »Anschluss nicht erreichbar«. Nach einigen Sportunfällen, Herzinfarkten und sechs abgeschnittenen Ohren schlossen auch die anderen Sonderabteile ihre Automatiktüren bzw. sie wurden mit schwerem Gerät blockiert.

Shoppingstation

Am ICE-Bahnhof Hannover Messe entstand pünktlich zur Expo 2000 der erste Einkaufsbahnhof, der in den Folgemonaten noch vergrößert wurde. Zunächst eröffneten Ihr Platz, Spar, Lecker Bäcker und Kochlöffel. Es folgten bald darauf Wolle Rödel, Matratzen Concord, ein Dänisches Bettenlager, Fressnapf to go sowie eine Statdtteilbibliothek. Nach der Weltausstellung verschwanden zwei Drittel der Pop-up-Stores wieder. Heute bietet der Bahnhof Hannover Messe mit Yormas, einer Bahnhofsmission, Detektiv Tudor und diversen Snackautomaten ein bedarfsgerechtes Angebot.

Service und Komfort

Für interne Durchsagen nutzte die Bahn zunächst noch Zahlencodes (z.B. 911: Orangensaft ist leer, 112: Bordtoilette in Wagen 31 verstopft), was sie aber bald zugunsten transparenter Kommunikation mit den Fahrgästen (»Falls ein Polizist an Bord ist, bitte in Wagen 13 melden«) wieder aufgab. Dies wurde vor allem auch dadurch notwendig, dass die Durchgangsbereiche zwischen den Waggons, die sog. Ziehharmonika-Zonen, in den ersten Monaten wegen einer Gesetzeslücke nicht als fahrkartenpflichtige Bereiche galten. Dies lockte Taschendiebe in großer Zahl an. Als wenig komfortabel empfanden Fahrgäste außerdem, dass der Zug anfangs nicht automatisch in Göttingen hielt, sondern der Halt in der Universitätsstadt durch Betätigung der Notbremse herbeigeführt werden musste. Dafür ermöglichten bereits ab 1995 Klebetattoo-Fahrkarten den Comfort-Check-in.

Werbung und Aktionen

Was kaum bekannt ist: Der Ärzte-Hit »Westerland« sollte ursprünglich als PR-Song die Markteinführung des ICE begleiten. Weil sich die Bereitstellung des ersten Zugs immer wieder verzögerte, änderte die Band den Text und veröffentlichte ihn schließlich selbst. Auch andere Bahn-PR-Aktionen brachten bestenfalls mäßigen Erfolg. Die ARD-Polittalkshow »Sabine Christiansen« wurde jahrelang im ICE aufgezeichnet. Da dies allerdings nie jemandem auffiel, blieb die erhoffte Aufmerksamkeit für die Bahn aus. Auch die Sonderzüge »LoveParade Express – 350BpM« und »ICE Tigerente« konnten das Ansehen des ICE bei der jungen Zielgruppe kaum verbessern. Ihr Interesse am Bahnfahren und am ICE im Speziellen wuchs erst mit den ersten Internetforen Anfang der Nullerjahre. Inzwischen gibt es im Netz mehrere ICE-Foren mit fünfstelliger Mitgliederzahl, welche sogar einen eigenen Bahn-Störungs- und Diagnosekatalog, den ICE-10, entwickelten. Das Interesse an der Deutschen Bahn ist derart groß, dass Twitter Deutschland zehn Prozent seines Jahresumsatzes aus Tweets über die Deutsche Bahn generiert, deutsche Stand-up-Comedians fahren mit BahnGeschichten sogar satte 20 Prozent ihres Umsatzes ein. Als nächstes Prestigeprojekt plant die Bahn einen klimafreundlichen Recycling-Waggon, in dem wenig genutzte »Bahn-Comfort«-Sitze aus ausrangierten Zügen wiederverwendet werden sollen.

Julia Mateus