Julia Mateus

Autorin

TITANIC 02/19TITANIC 02/19

Die Versorger­konzerne kommen

TITANIC 02/19

Amazon will in den USA Krankenhäuser bauen, Lidl plant Wohnungen und eine Kita in Hamburg. Und demnächst fließt der günstige Discounter-Strom von Aldi (»River« im Norden, »Rio d’Oro« im Süden) durch deutsche Leitungen. Immer mehr Großunternehmen investieren in soziale Infrastruktur und prägen damit Stadtbild und Region. TITANIC präsentiert die neuesten Projekte.

Lidl: Wohnungen

Wie preiswerte Kulturchampignons schießen die Lidl-Hochhäuser in deutschen Großstädten aus dem Boden. Während der Angebotswoche bringt der Billigheimer dann plattenweise Discounterwohnungen unters Mietervolk. Da die einheitlich geschnittenen 4-Zimmer-Quartiere zwar verhältnismäßig günstig, aber für Singles ungeeignet sind, bewirbt der Konzern sie auch als WGWohnungen. Pluspunkt: Durch Kameraüberwachung in allen Räumen lässt sich leicht herausfinden, welcher Mitbewohner den Seifenspender wieder nur mit Wasser aufgefüllt oder seine Haare im Abflusssieb vergessen hat. Gerne moderiert Lidl-Werbegesicht Sophia Thomalla das WG-Casting. Doch die Supermarktkette hat trotzdem bald keine Kontrolle mehr, wer ein- und auszieht. Angelockt von der urbanen Lage und den Lidl-Fairtrade- und Bio-Siegeln richten sich immer mehr Ökohipster in den Häusern ein. Mit negativen Folgen für den Markt: Sie durchwühlen die Mülltonnen nach gammligen Pilzen und pflanzen Koriander und Quinoa in Einkaufswagen an. Besonders militante Bewohner organisieren konsumkritische PerformanceKunst-Aktionen, bei denen aufmüpfige Filialleiter mit Frischhaltefolie gefesselt in der Quengelzone zurückgelassen werden. Und die Konzernzentrale schaut hilflos dabei zu, weil sie die Mieter aus Imagegründen nicht rausschmeißen will.

Zalando: Psychiatrien

Abgeschieden in strukturschwachen Regionen, in Wahnhausen, Mackenrode, Wirringen oder Meisenheim, powern sich die Patienten beim Schrei-vor-Glück-Yoga oder beim Marathon durchs Paketzentrum richtig aus. Praktisch: Die vollgeschwitzte Sportkleidung wird danach zurück in den Karton gestopft und retourniert. Bei der Gelegenheit können sich die Bewohner der Heilanstalt auch gleich ihre Medikamente aus der klinikeigenen Packstation holen, wenn sie nicht gerade voll ist. Der Promi-Irrläufer Rainer Langhans huscht seit Jahren von morgens bis abends freudestrahlend in Bademantel und Schlappen der Zalando-Trendmarke »Meschugge« durch die Flure. Doch trotz idyllischer Momentaufnahmen darf man nicht vergessen: Jeder hat hier sein Päckchen zu tragen. Besonders schwer haben es Online-Shopping-Süchtige, Kleptomanen und Zalando-Logistikmitarbeiter. Da wundert es kaum, dass die Behandlung nicht immer erfolgreich ist und jeder zweite Patient nach der Entlassung wieder zurückgeschickt wird.

Heckler & Koch: Kantinen für Bedürftige

Die Waffenschmiede hat trotz milliardenschwerer Rüstungsdeals hohe Schulden, und ihre Produkt-Innovationen haben schon länger nicht mehr ins Schwarze getroffen. Da bleibt dem Schrottflintenhersteller nur noch soziales Engagement, um sein Image aufzupolieren. In Kooperation mit den örtlichen Tafel-Vereinen betreibt Heckler & Koch deshalb Küchen für Bedürftige. Auf dem Speiseplan steht Deftiges aus dem Feuertopf, wie z.B. Blutpudding mit Schrotbrot, Tellerminen oder Büchsenfleisch. Zum Nachtisch gibt es Maulwurfkuchen, Granatsplitter und im Sommer Eisbombe. Auch die allseits beliebte Panzerschokolade und Pulverkaffee (mit oder ohne Schuss) gehen immer. Kommt das Kanonenfutter weiterhin so gut an, wird das Konzept in Konfliktregionen und Krisenherde, z.B. nach Mexiko oder Libyen exportiert.

Booking.com: Kliniken

Gesundheitsminister Jens Spahn will Behandlungskosten senken. Dafür setzt er auf Big Data und ein Aufnahme- und Bewertungssystem für Krankenhäuser von Booking. com. Änderungen des Datenschutzrechts erlauben die Onlinesprechstunde per Webcam, die dank der Sicherheitslücken von Booking.com auch vor Publikum stattfinden kann (»3542 andere sehen sich das gerade an«). Außerdem muss jeder Patient, um behandelt zu werden, den AGB der Buchungsplattform zustimmen und wird damit im Todesfall automatisch Organspender. Die Verteilung der Organe läuft ebenfalls über die Seite (»Knapp verpasst!«). Zusätzlich haben die Kliniken, wie von Spahn gewünscht, die Spartips der Hotels angenommen: Die Notaufnahme wird mit einer Klingel versehen und ist von 8–22 Uhr besetzt, der Orangensaft in der Cafeteria wird nur noch in winzig kleinen Gläsern serviert.

Apple: E-Mobilität

Als Ersatz für reguläre Steuerabgaben investiert das Technologie-Unternehmen in ausgewählten Städten in den öffentlichen Nahverkehr. Apple setzt dabei auf aufwendig designte fahrerlose E-Busse. Der Haltewunschknopf ist überflüssig, denn mit Hilfe künstlicher Intelligenz entscheidet die Software komplett autonom über Routen und Fahrgäste, die sie mittels Face-ID erkennt. Wer kein I-Phone hat oder z.B. das Foxconn-Werksgelände nach weniger als zwölf Stunden wieder verlassen will, für den bleiben die Bustüren geschlossen. Bürgermeister finanzschwacher Kommunen sind zunächst begeistert. Doch schon bald zeigen sich schwerwiegende Nachteile: Die Ladestationen müssen umgerüstet werden, weil sie mit den Steckern der Busse nicht kompatibel sind. Schwächeln die Busakkus, wird die mögliche Höchstgeschwindigkeit gedrosselt, bis die Busse irgendwann nur noch im Schneckentempo fahren oder alle 30 Minuten an die Box müssen. Außerdem hält Apple die neuen Fahrpläne so geheim, dass am Tag des Fahrplanwechsels eigentlich niemand weiß, wann und wo die Busse abfahren, nicht mal die Entwickler Hauke und Gero vom Apple-Support.

Julia Mateus