Julia Mateus

Autorin

Freizeittrend Eskalation

Wut ist die neue Achtsamkeit, garstig ist das neue hygge. Immer mehr Menschen lassen ihren Aggressionen im Alltag freien Lauf. Woher rührt die neue Glorifizierung des Grolls?

Ungeduldig fummelt Henriette Tjarks am Reißverschluss ihrer Barbour-Steppweste herum. Gleich geht es los, mit ihren Freundinnen zu Ikea. Eine Mischung aus Vorfreude und Zorn lässt ihre Wangen leicht erröten. Was der freundlich grüßende Angestellte am Eingang nicht weiß: Die gut betuchten sechs Hamburger Seniorinnen sind nicht zum Möbelkaufen hier. Schnell an ihm vorbei, mit der Rolltreppe nach oben. Noch ein bisschen unauffällig durch die Modellküchen flanieren, warten, bis kein Mitarbeiter mehr in Sicht ist. Dann ist es so weit. Henriette packt den ersten »Mammut«-Kinderstuhl mit beiden Händen und schmettert ihn in die Glasvitrinen-Ecke. Eine »Bittergurka«-Stahlgießkanne und ein Übertopf fliegen hinterher. Die Schlacht hat begonnen. Teller, Bratpfannen, Tiefkühllachse und Ikea-Kataloge fegen durch das Möbelhaus. Ein Servierwagen rast in eine Glaswand, Regale knallen auf den Boden. Vier Minuten dauert das Spektakel, dann sind die Frauen vom Sicherheitspersonal umzingelt. Henriette pfeffert dem Kaufhausdetektiv noch ein »Knorrig«-Plüschschwein vor die Füße, bevor sie von ihm abgeführt wird.

Eine Schadenssumme in fünfstelliger Höhe dürfte zusammenkommen, plus Prozessgebühren und Strafzahlungen, überschlägt Anwalt Sönke Timmerbrok. Er ist immer dabei, um zu verhindern, dass eine der »Krawallschachteln«, wie sich seine Mandantinnen gegenseitig nennen, mehr als eine Geldstrafe riskiert. Anderthalb Stunden sind sie heute gefahren. In sämtlichen Möbel- und Kaufhäusern rund um Hamburg haben sie bereits Hausverbot. Hat es sich gelohnt? »Aber sicher«, grinst Henriette zufrieden nickend.

Geplante oder auch spontane Gewaltausbrüche werden nicht nur in der reichen Oberschicht immer beliebter. Seinen Ursprung nahm das Escalate Room Game im Internet. Was am Anfang nur ein paar Nerds ironisch durchspielten, ist inzwischen in sämtlichen Alters- und Berufsgruppen eine populäre, häufig in der Öffentlichkeit praktizierte Freizeitbeschäftigung. Auch vor Schulen macht der Trend nicht halt. Traf man sich früher hinter der Turnhalle zum Prügeln, werden Schlägereien heute direkt im Klassenzimmer ausgetragen. Manche warten nicht einmal das Ende des Elternabends ab. Einige Erziehungsberechtigte sind gar so verschlagen, dass sie ihre Kinder zu Keilereien mit Mitschülern anstiften – um später in der Notaufnahme deren Eltern verdreschen zu können. Auch Schwangere, die, nachdem ihnen Kragen und Fruchtblase geplatzt sind, im Kreißsaal um die letzte Hebamme ringen, sind keine Seltenheit mehr.

In jeder vierten ostdeutschen Gemeinde regiert inzwischen ein Wutbürgermeister, Konfliktforscher halten langfristig sogar ein globales Wett-Entrüsten für möglich. Von dem Aggro-Hype profitieren u.a. mittelständische Kopfbedeckungsgeschäfte. Die wachsende Hass­kappen­nachfrage und die Vielzahl gerissener Hutschnuren bescheren ihnen ein unerwartetes Umsatz-Plus. In der Arbeitswelt werden Teambuilding-Events in »Tropical-Island«-Parks, bei denen sich Mitarbeiter gegenseitig auf die Palme bringen, immer beliebter. Im Netz hat das Groll-Emoji den Tränenlach-Smiley längst abgehängt. Auch auf Schönheitsideale wirkt sich der Trend aus: Zornesfalten sind plötzlich angesagt. Und Frauen hören von fremden Männern statt einem »Lach doch mal!« immer häufiger die Aufforderung, grimmig zu schauen.

Kaffeekränzchen gone wrong: Mit der wütenden Henriette ist nicht gut Kuchen essen

Henriette hat vor drei Jahren mit dem Randalieren begonnen. Inzwischen nimmt die 78-Jährige regelmäßig an sogenannten Rage-Events teil. Auch bei den G-20-Ausschreitungen mischten sie und hre Freundinnen mit. »Als wir die brennenden Barrikaden im Fernsehen sahen, sind wir sofort los und in den Schanzen-Rewe gestürmt«, schwärmt sie. Doch am Anfang war ihr neues Hobby für sie kein Selbstläufer. Ihr fehlte die Wut. Über nichts konnte sie sich aufregen. Nicht über Benzinpreise, nicht über Generationenungerechtigkeit, nicht mal über ihren Steuerbescheid. Kein Grund, aufzugeben. Die agile Seniorin suchte Aggressionstrainer Rüdiger Stunk auf. »Wut kann man trainieren wie einen Muskel«, sagt Stunk. Mit ein paar einfachen Tricks könne jeder nach und nach zum Choleriker werden. Manche Menschen würden sofort die Fassung verlieren, andere bräuchten mehrere Auslöserereignisse, bis sie so richtig ausrasten. Fachleute bezeichnen dies als »Sammelwut«. Er habe auch Klienten, die am Anfang gar nicht wütend würden. Da helfe es, sich in ein Empörungsszenario hineinzusteigern, ein zorniges Gesicht zu machen und sich selbst im Spiegel anzubrüllen. Das funktioniere analog zum Lachyoga. Unterstützend gebe es z.B. noch Smartwatches, die einen schrillen Pfeifton erzeugen, sobald der Puls des Trägers unter 180 fällt.

Henriette hat immer noch Schaum vorm Mund. Der Fahrer hat eine Runde Latte Macchiato mit Bittermandellikör besorgt. Gleich folgt der unangenehme Part, der mit der Polizei. Eine andere Hamburger Krawallgruppe ist neulich mit einer Verwarnung davongekommen. Ein Abteil eines Regionalzuges hatten die jungen Männer verwüstet. Egal, was diesmal für Henriette herauskommt: Bei diesen öden Charity-Events abhängen oder ihrem biederen Enkel beim Blockflötespielen zuhören, das könnte sie nicht mehr. Da würde sie durchdrehen.

Julia Mateus